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  • Beitrag veröffentlicht:17. April 2022
  • Beitrags-Kommentare:2 Kommentare
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Wie sehr wünschen wir uns es gäbe sie. Die eine Wahrheit als immerwährende Orientierung und unseren Leitstern, an dem wir unser Leben ausrichten können. Die eine Richtschnur, an der wir uns entlanghangeln können, wenn wir selbst nicht mehr weiterwissen – unser Halt, ein sicherer Tritt. Wir möchten so sehr an unserer Vorstellung von der einen Wahrheit über uns und unsere Welt festhalten, dass die bloße Idee, sie loslassen oder verändern zu müssen, uns den Atem raubt.

Ich durfte in den letzten Wochen sehr oft erleben, wie es ist, wenn unser Glaube an die eine Wahrheit erschüttert wird. Es tut wirklich richtig weh. Ich war am Ende so verletzt, dass ein Messerstich mehr gereicht hätte, um nicht mehr auftauchen zu wollen. In mir wollten die tiefsten Verletzungen Heilung finden, ich war gefordert, mich neu auf mich einzulassen, für mich einzustehen und wieder ins Leben zurückzukommen. Das war eine Grenzerfahrung und ich durfte sehr viel verstehen – über meine eigenen Verletzungen und die Schutzmuster, die wir uns alle gebaut haben, um zu überleben. Denn auch in meinem Leben gibt es Dinge, vor denen ich die Augen und Ohren verschließen möchte, ich will sie nicht wahrhaben – nicht in mir und nicht um mich herum. Und doch sind sie da und wollen gefühlt und erfahren werden.

Als wir unseren Hund bekommen haben dachte ich es wird alles wunderbar. Ich hatte mich so gefreut, wir haben ihn kennengelernt, waren bereit, in unsere neue Aufgabe mit sehr viel Hingabe und Liebe hineinzuwachsen. Dass die Energie zwischen uns beiden nicht stimmig ist und sie die tiefsten Wunden in mir berührt, konnte keiner ahnen. Was es für eine Lawine der Gefühle lostreten würde noch viel weniger. Die Zeit mit unserer Hündin und auch die Entscheidung, sie zurück zur Pflegestelle zu bringen, haben Gefühle in mir ausgelöst, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Das zu verarbeiten war eine Herkulesaufgabe, denn hier geriet meine Wahrheit über mich ins Wanken. Ich habe die dunkelsten Nuancen der Gefühlspalette in mir gespürt und durfte meinen inneren Dämonen direkt in die Augen sehen. Das war also auch ich – mit allem, was dazugehört. Diese Erkenntnis tut weh. So weh, dass ich mir gewünscht habe, der Auslöser dieser Gefühle wäre nie in mein Leben getreten. Dass das wenig Sinn macht, war mir klar, holte meine Hündin doch nur das an die Oberfläche was eh schon lange in mir betrachtet werden wollte. Und dennoch wehrte sich alles in mir.

Doch es gab noch eine weitere Ebene. Da ich nicht alleine und isoliert lebe, habe ich mit meinen Wahrnehmungen der Situation und der Entscheidung auch die Wahrheiten der Menschen um mich herum erschüttert. Das ist ebenso schmerzvoll – für beide Seiten. Denn nur selten schaffen wir es, wenn unser Weltbild aus den Fugen gerät, ganz bei uns zu bleiben, unsere Emotionen anzunehmen und in der Akzeptanz der Situation zu bleiben. Wir versuchen Lösungen zu finden, damit die konstruierten Realitäten in unserem Kopf nicht einstürzen müssen und merken dabei selten, dass wir geblendet sind von unserem eigenen Schmerz. Weil nicht ist, was nicht sein kann, weil wir es nicht wahrhaben wollen, es tut einfach zu sehr weh. In meinem Fall waren es die festen Überzeugungen über Menschen und Tiere, derer beider Wohl und ihr Zusammenleben. Doch die Fülle an Meinungen und Wahrheiten, mit denen wir jeden Tag konfrontiert werden, ist unbegrenzt. Das Festhalten an ihnen führte für mich im besten Fall zu interessanten Tipps, im ungünstigsten Fall zu verletzenden Vorwürfen, Urteilen und Schuldzuweisungen. Weitere Stiche in den Verletzungen, die in mir selbst schon aufgebrochen waren, Öl in das eh schon brennende Feuer.

Jeder von uns baut sie – diese Wahrheiten über uns selbst und unsere Welt. Sie helfen uns bei der Orientierung. Wir möchten so gerne an das eine glauben und das andere weit von uns weisen, die Welt einteilen in schwarz und weiß und immer auf der richtigen Seite stehen. Für die meisten von uns wird das nicht passieren. Weil wir alles erleben wollen und die Welt so viele Facetten von grau enthält, denen wir uns wieder öffnen dürfen. Den Schmerz darüber, dass Dinge anders sind, als wir sie uns wünschen und anders als wir sie unser ganzes Leben betrachtet haben, dürfen wir spüren. Manchmal begleitet von einer Sintflut an Emotionen. Die schönste Wegbegleitung, die ich in der Zeit von einer Freundin bekommen habe, waren die Worte: Mein Kopf denkt, ich sollte dir jetzt etwas sagen, doch es fühlt sich übergriffig an, daher spüre ich einfach meine Verbundenheit zu dir. Und so durfte für einen Moment einfach alles einmal sein – in stiller Akzeptanz, für die ich unendlich dankbar war.

Mögen wir den Mut finden, Wahrheiten, denen wir begegnen, mit unserem Herzen zu fühlen und nicht mit dem Verstand folgen zu wollen.

Meine Gedanken für dich:

# Welche Überzeugungen und Wahrheiten erkennst du an dir und in der Welt, an denen du unbedingt festhalten möchtest?

# Was fühlst du, wenn dein Weltbild erschüttert wird?

# Wie gehst du mit dir um, wenn du emotional aufgewühlt bist? Was wünschst du dir von anderen?

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Britta

    Das ist ein wunderschöner Text liebe Marlen. Deine Worte so stimmig. Herzlichen Dank für Deinen Mut und Deine Offenheit. Und dass Du den Mut hattest, zu Dir zu stehen. Alles Liebe Britta

    1. Marlen Wagner

      Liebe Britta, vielen Dank für deine Worte und deine stets liebevolle Begleitung! Ohne dich wäre so viel in mir und von mir im Verborgenen geblieben, ich danke dir für dein Sein, dein Wirken und dass wir uns hier in diesem Erdenleben begegnen dürfen! Von Herzen eine liebe Umarmung!

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